Samstag, 13. Juni 2015

Der Schmetterling


Sie war ein gutes Mädchen. Fleißig, freundlich, behütet, bewacht. Für sie schien am Tag die Sonne, der Mond in der Nacht. Sie lebte ein Leben, gemäß jeder Norm. Jeder Schritt in die Zukunft passte in die Form, die einem Mädchen gebührt, das niemals ein Feuer schürt, an dem es sich entzünden könnte.
Alles war perfekt, unterlag ihr Leben doch einem Plan, der auf jede Frage eine Antwort bereithielt.
Bis auf eine.

Eines Morgen wachte sie auf, als es noch dunkel war. Es war früh im Jahr, Wintermärchen streiften knurrend durch die Vorgärten der beschaulichen Häuser, in denen gute Mädchen die schwindenden Tage ihrer kindlichen Unschuld hinter bunten Glasfenstern verstecken. Wispernd wehte der Nordwind durch die schlafenden Bäume und hauchte seinen frostigen Atem an die Scheiben. Ein leiser Ruf, ein sanftes Klopfen, eine Einladung ohne Versprechen.

Sie liebte das morgendliche Zwielicht, wenn der Tag noch ein unschuldiges Kind dessen Zukunft ungewiss im Schoss der Zeit schlummert. Wenn die Seele auf den Schwingen verborgener Sehnsüchte durch das bloße Dasein segelt, frei von den Pflichten und Zwängen der Realität.
Doch heute war etwas anders. Schimmernde Eisblumen schrieben mit langfingrigen Klauen bedrohliche  Botschaften an ihr Fenster. Sie fröstelte, schüttelte die Furcht ab wie lästige Schneeflocken nach einem Winterspaziergang.

Im Haus war es still. Nur die alten Holzdielen knarrten geheimnisvoll unter ihren bloßen Füßen. Ihr Spiegelbild zeigte, was sie nicht sehen wollte. Fremde Augen blickten unerbittlich und tief in ihre Seele, die sich ängstlich in einen verborgenen Winkel ihres Verstandes verkroch. Wer war dieses Mädchen, das ihr hungrig die Hand entgegenreckte, erschreckt und bedrohlich zugleich. Auf ihren blassen Lippen trug sie die stumme Frage: „Wo bin ich, wo bin ich geblieben?"

Sie war ein schönes Mädchen. Ihre Haut milchweiß, makellos. Wie eine Puppe wurde sie bewundert, umschmeichelt, ausstaffiert. Wie eine Puppe lächelte sie stumm bei jedem Kompliment, das ihre Ohren, doch nicht ihr Herz erreichte.
Sie fand sich nicht schön, und doch war Schönheit ein mächtiger Wunsch, in ihren Verstand gepflanzt und gezüchtet, mit verfluchten Spiegeln in ihr Bewusstsein gebrannt. Vorbilder, Abbilder, Sinnbilder seit sie denken konnte. In keinem fand sie wonach sie so schmerzlich suchte. Sich selbst.
Sie wäre gerne dem Ruf des Nordwinds gefolgt, der ihren Lebenshunger mit Sehnsüchten fütterte. Sie war geblieben - das gute, schöne, brave Mädchen.

Der Körper ist ein Spiegel der Seele, sagt man. Doch schon oft hatte sie erfahren wie leicht sich das Auge täuschen lässt; wie leicht Oberflächen poliert werden können, um das wahre Gesicht zu verbergen.
Sie beherrschte die Kunst der Täuschung. Es war nunmehr eine Übung ein Lächeln zu exerzieren. Wie leicht lässt sich das Auge täuschen.
Wie leicht lässt sich die Seele täuschen.

Eines Morgens wachte sie auf, als der Tag schon hell durch die trüben Fetzen ihrer verblassenden Träume schimmerte. Die Sonne stieg höher, vertrieb die Schatten, doch ein Fleck auf ihrer Brust blieb beharrlich. Er wuchs. Er fraß an ihr wie ein hungriges Tier. Ihr Gesicht wurde schmaler, bis die fahle Haut über ihren Wangenknochen totengleich die Form ihres Schädels zeichnete. Ihre Beine wurden so dünn und schwach, dass sie die Last ihres Daseins kaum mehr zu tragen vermochten. „Wo bin ich, wo bin ich geblieben?"

Am nächsten Morgen fiel es ihr schwer die Augen zu öffnen. Sie fühlte sich schwach und krank. Nippte am dargereichten bitteren Trank; gab Menschen voller Widerwillen die schlaffe Hand und blinzelte kraftlos in die grelle Wintersonne, die schon hoch am Himmel stand. Sie hatte Angst. Weinte erstickte Fragen in schweißnasse Kissen.
Woher kam diese Angst, die wie ein bedrohlicher Schatten auf ihrer Seele lag? Woher kam die fremde Trauer, die wie ein Nachtfalter in ihrer Brust nistete und zitternd mit seinen schwarzen Flügel schlug?

Sie mühte sich aufzustehen, wollte die Dunkelheit fortspülen. Dicke schwarze Brühe floss durch ihre zarten Hände. Sie konnte die Flut ihrer Furcht nicht halten, die sich in einem Schwall aus ihrem Mund auf den Boden ergoss. Durch tränenverschleierte Augen sah sie dort etwas liegen. Sie bückte sich und nahm einen kleinen Kokon in ihre Hände. Es war die winzige Puppe eines Schmetterlings.
Am Morgen darauf wachte sie auf, als die Sonne bereits den Zenit überschritten hatte. Erfolglos hatten fürsorgliche Menschen seit Stunden versucht sie dem Reich der unruhigen Träume zu entreißen. Nun standen sie mit sorgenvollen Gesichtern vor ihrem Bett und blickten bekümmert. Sie versteckte ihre bleichen, befleckten Hände, die Geschichten erzählten, an die sie sich nicht erinnern konnte. Unter ihren Nägeln brannte schwarze Erde. Und in ihrem Kopf die Frage: „Wo bin ich, wo bin ich geblieben?".

Endlich allein, blickte sie in den schweigenden Garten. Die Bäume träumten und wogen ihre kahlen Äste sachte im Winterschlaf. Hier und da wagten Blüten einen vorsichtigen Blick durch den zarten Schneestaub, der die Erde noch bedeckte. Der Himmel hing düster über ihren Gedanken und unter ihrem Fenster gähnte still wartend ein offenes Grab. Schwarze Erde.

Der Schlaf wurde ihr zum Feind. Sie verbarg das dunkle Mal unter weißen Kleidern, doch ihre Tränen färbten das Leinen schwarz. Fesseln schnürten sie des Nachts an die eiserne Realität. Doch wie können irdische Seile die Seele halten, wenn sie aufbegehrt und sich in Sehnsucht nach dem Unerreichbaren verzehrt?

Am nächsten Morgen wachte sie auf und das Grab war verschwunden.
Über ihr nur schwarze Erde.
Obenauf saß ein schwarzer Schmetterling. Leise bewegte er seine zarten Flügel. Der Wind trieb ihn den Himmel hinauf und er flog höher und höher, bis er mit bloßem Auge nicht mehr zu sehen war. Und er sang ein Lied, das allen Trauernden wie Scherben in die Seele schnitt: „Längst schon war ich fort." 

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